Sonntag, 28. Juli 2013

Lieschen hangelt sich am Erinnerungsseil tiefer in die Zeit

Die Inder verallgemeinern auch. Alle. Und die sprechen Englisch ähnlich wie Gretes Herr Heinevetter. Das weiß das Lieschen genau. Naja. Ziemlich genau. Also ganz genau genommen liegen ihre Indienreisen schon sehr viele Jahre zurück. Tiefste Vergangenheit. Und auch Indien ist wohl mittlerweile in seiner Zukunft angekommen. Über indische Gegenwart weiß sie leider wenig.

Also hangelt sie sich am Erinnerungsseil tiefer in die Zeit und sieht sich zwanzig Jahre jünger auf einer staubigen Straße in einem indischen Bergdorf.  Sie sitzt auf einem Stuhl am Rande der einzigen Straße, die durchs Dorf führt. Der Taxifahrer hat sie dort abgesetzt. Mitten in der Sonne 40 Grad. Er besorgt in der Autowerkstatt des Ortes, einem winzigen garagenartigen Gebäude mit Wellblechdach, ein wichtiges Ersatzteil, das sein altersschwaches Gefährt zum Weiterfahren überreden soll. Der Einbau dauert. Und während der langen Wartezeit flanieren die Dorfbewohnerinnen in einfachen, aber wunderschönen Saris mit ihren Männern und Kindern an unserer Liese, die auf dem Stuhl sitzt und in der Sonne brät, in langer Reihe vorbei. Immer wieder. Kein Wort. Nur Blicke. Erstaunte Blicke. Verwunderung von Menschen, die in einem Bergdorf leben und selten, ganz selten Nichtinder sehen. Hierhin hat sich wahrscheinlich noch kein englisches Wort verirrt.

Das war ihr erster Tag im fernen Land, in dem die Menschen miteinander jede Menge Sprachen und Dialekte sprechen. Wortlose und wortreiche. Zur tatsächlichen landstrichübergreifenden Verständigung untereinander brauchten und brauchen sie Englisch. Lieschen liebt die Aussprache der dörflichen Inder von damals. Ein Singsang, dem sie stundenlang zuhören konnte, ohne sich zu langweilen.

Nur wenige der Geschäftsleute, die sie auf ihrer ersten Reise kennen lernte, hatten Visitenkarten. Und wenn, dann keine der Sorte Edelbert. Damals galt auch dort, oder vielleicht gerade dort, das Sein noch mehr als der Schein. Naja. Jedenfalls hatten sie keine Visitenkarten mit irreführenden Jobbezeichnungen, die eher der Vertuschung als der Bekanntmachung  dienten.

„Brasser häs" hörte sie oft, wenn sie etwas in einem Lädchen suchte, das es dort nicht gab. „Kamm tomoro“. Und oft stimmte es. Die Ladenbesitzer, alle ohne weitere Titel  unterschiedslos miteinander verbrüdert, besorgten ihr oft zum nächsten Tag, was sie brauchte.

Lieschen weiß, dass sich die Zeiten geändert haben. Dort vermutlich doppelt so schnell wie hier. Auch damals schon hat sie Inder kennengelernt, die Herrn Heinevetter und Konsorten leicht Unterricht in echter englischer Aussprache hätten geben können, weil sie es perfekt sprachen. Im Ausland gelernt hatten und mit vielen anderen Fähigkeiten nach Hause brachten.

Ob der Herr Heinevetter ahnt, dass er vielleicht bei dem Versuch, eine deutsche Hotline zu erreichen in irgendeiner indischen Vorstadt „ankommt“ und mit jemandem spricht, der heute perfekt Deutsch, aber bis vor gar nicht so langer Zeit  englisch genauso ausgesprochen hat wie er.





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