Montag, 11. November 2013

Lieschen war wütend

Lieschens Antwort auf Fräulein Grete Meiers Post Nr. 90  ---> guckst du hier

Fast hätte das Lieschen laut ausgerufen: „ach wie süß“ als sie sich den in die Jahre gekommenen hilflosen Herrn Heinevetter in fescher Jeans und Outdoorjacke an der Brüstung hängend vorstellte. Doch gerade noch rechtzeitig hat sie sich die Schwierigkeiten, die er mit seiner Aktion der Grete gemacht hat, in Farbe vorgestellt. So sind ihr während des Weiterlesens die Worte im Munde stecken geblieben und sie erhielt prompt die Bestätigung, dass ihr Schweigen tatsächlich besser war, auch wenn „das süß“ niemand außer ihr gehört hätte. 

Die Grete hat ihn natürlich mal wieder retten müssen, den Herrn Nachbarn, der offensichtlich gerne noch jung und fit wäre. So fit wie der Schimanski seiner jungen Jahre in dessen jungen Jahren. Ob der Herr George, wenn er sich in Herrn Heinevetters Situation befunden hätte, in der Lage gewesen wäre, sich selbst wieder auf den Balkon zu ziehen, weiß das Lieschen natürlich nicht. Sie guckt schon lange keinen „Tatort“ mehr. In ihr lebt (auch) noch das Bild des „alten“ jungen Schimanskis, der sich sonntäglich durchs Ruhrgebiet trank und durch keine noch so aussichtslose oder vermasselte Situation zu beeindrucken war. Doch die Zeiten sind vorbei. Auch für Schimanski, auch für den Schauspieler. Und vorbei ist doch vorbei. Oder etwa nicht? 

Oder etwa nicht! Lieschen kann sich heute die Antwort selbst geben. Seit Samstag weiß sie wieder, dass kleinste Erinnerungen genügen, um die „guten alten Zeiten“ zum Leben zu erwecken. In Lieschens Fall hat das nix mit den „Tatorten“ ihrer Jugend zu tun. In ihrem Fall ist die Schulzeit wieder in ihr Leben getreten. Für kurze Zeit mit voller Wucht. Klassentreffen samt Schulbesichtigung am Samstag. Mitten in der Schulaula wohnten offensichtlich mindestens Gefühle der Abhängigkeit, Verzweiflung und Rebellion. Lieschen hat sie zu spät bemerkt, ist mitten durch sie hindurch gegangen und die alten längst vergessenen Gefühle hatten nichts Besseres zu tun als sich an sie zu heften  und sie auch den ganzen Sonntag hindurch zu begleiten. 

Lieschen hat mitten im chaotischen Lehrerzimmer gestanden, die vierzig Jahre alten Sprüche des schon seit zwanzig Jahren pensionierten ehemaligen Klassenlehrers nicht abwehren können und hat in den Gesichtern der mit ihr Besichtigenden tatsächlich die vertrauten Gesichter von damals entdeckt. Damals stand ihnen allen die Welt offen. Weit weit weit. Dachten sie und hofften sie. Heute, 35 Jahre später, liest die Liese jede Mengen Geschichten in den vertrauten Augen und weiterhin noch nicht alt wirkenden Frauen. Zu viele Geschichten? Enge Geschichten? Tragik? Freude? Wie viel Welt und wie viel weites Leben liegt noch vor ihnen, den Müttern, Ärztinnen, Arztgattinnen, leitenden Angestellten und so viel Gewordenen? Was ist geblieben? Was wird noch kommen? Lieschen weiß es nicht. 

Im Lokal, nach der Schulbesichtigung, hat sie ein wenig entspannt und in höllischer Geräuschkulisse versucht, zu erfahren was sie interessiert. Das war nicht leicht. Eckdaten. Nur Eckdaten. Mein Auto, mein Haus, die Yacht. Wie viele Kinder, wie alt, der wievielte Mann, Wohnort und Arbeitsstelle. Mehr war in der Kürze der Zeit kaum zu erfahren. Auch nicht für das Lieschen, die das Fragen in ihrem Leben ja perfektioniert hat. Manches „gut, gut“ mit schriller Stimme aus Mündern unter traurigen Augen hat sie kurz verweilen lassen und manches „ach ja … ganz gut“ aus Mündern unter Augen mit eingebrannten Lachfältchen auch. Lieschen hätte gerne manch erlebte Geschichte gehört. Sie hätte gerne gewusst wie die Damen, mit denen sie den Abend verbrachte und vor so langer Zeit neun Jahre ihres Lebens teilte, ihre Krisen überwunden haben, was hat ihnen geholfen, wie haben sie es gemacht und hatten SIE irgendwelches Rüstzeug für die schwierigen Lebenssituationen aus der Schulzeit mitnehmen können? 

Es war ein anstrengender und auch ein schöner Abend. Lieschen ist erstaunt wie vertraut ihr die vergessenen Gesichter nach kurzer Zeit wieder waren. Noch heute ist sie erstaunt, dass die 10-19-jährigen gut sichtbar in den Mitfünfzigern wohnen. Ob es klug ist sie zum Leben zu erwecken oder müssen die erst geheilt werden? Wäre das gut? Oder wäre es besser, den Erinnerungsabend einfach wieder zu vergessen und weiterzumachen mit dem Leben, wie es halt gerade ist?

Lieschen hat eben die Abiarbeiten verbrannt, die sie ungefragt am Samstag ausgehändigt bekam. Sie hat sie gelesen. Sowohl den Müll, den sie selbst damals in rotziger Schrift aufs Papier gebracht hat als auch all die roten Wörter und Ausrufezeichen in der Nachbarspalte. Das Wissen, dass auch die Lehrer damals sehr jung waren und eigentlich noch keine Chance hatten zu erfahrenen Menschen heranzureifen, hat sie nicht vor erneut aufkeimender Wut auf Dummheit, Ignoranz und das System an sich bewahrt. „Liebe Lehrer“ will die Liese sagen „das rote überhebliche Anmerken der Fehler wird keinen schlechten Schüler zu einem Guten machen. Glaubt mir! Schreibt dahin, was in euren Augen richtig gewesen wäre, falls ihr wollt, dass der Schüler was lernt …“. 

Da diese Wut dem Lieschen schon damals nicht gut getan hat und auch heute bereits wieder begann, Schaden in der Liese anzurichten, hat sie die Arbeiten eben kurzerhand verbrannt. So ist sichergestellt, dass sie sie niemals wieder ansehen muss und auch die Wut verebben kann. Schließlich hat sie mit der Liese von heute nix mehr zu tun.


Was wird der Herr Heinevetter wohl tun, wenn uralte „Schimanskis“ im Fernsehen wiederholt werden? Da er offensichtlich ja ähnlich leicht zu beeindrucken ist wie das Lieschen, würde die ihm empfehlen, in einem solchen Fall den Fernseher einfach ausgeschaltet zu lassen. So wie sie zum nächsten Klassentreffen einfach nicht mehr hingehen wird.



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3 Kommentare:

  1. Hi meine Liebe, ja Klassentreffen konnen amüsant und erschreckend zugleich sein. Würde mir auch überlegen eines zu besuchen. Habe mich nach einigen Reinfällen auch geweigert noch einmal eines zu besuchen.
    Ja das waren noch Zeiten als Schimanski in Duisburg spielte. Dabei ist er gar nicht so wie Schimanski. Ein ernster liebenswerter Mann, der gut Theater spielt und ich durfte ihn nach einer Premiere in der Theaterklause begrüßen. Ach das waren noch Zeiten.

    Liebe Abendgrüße
    Angelika

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  2. Hallo Brigitta,
    wir hatten nur 1x nach 30 Jahren ein Klassentreffen, was ich sehr schön gefunden habe. Meine Göttergattin hat ca. alle 5 Jahre ein Klassentreffen gehabt. Diese Häufigkeit hätte mir gefallen. Habe leider auch nach dem Klassentreffen praktisch keinen Kontakt mehr zu meinem früheren Klassenkameraden (obschon einige durchaus in meiner Nähe wohnen).

    Gruß Dieter

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  3. Klassentreffen - eine Sache, die ich mit gemischten Gefühlen sehe. Wir haben eigentlich immer alle fünf Jahre eines.Aber das ist mir fast zu zeitnah.
    Lieschens Erfahrungen kann ich bestätigen.
    Wirklich vertiefte gespräche können in so einem Rahmen ja kaum stattfinden. So versucht man, aus den wenigen, oft oberflächlichen Infos etwas herauszulesen.
    Dennoch stelle ich immer wieder fest, dass Züge der ehemaligen MitschülerInnen doch vertraut bleiben.
    Ich gebe den Erinnerungen Raum für eine kurze Zeit, doch dann verschwinden sie wieder in einer Ecke - bis zum nächsten Mal.

    Zu diesen hässlichen Korrekturen: Die finde ich auch blöd, zumindest erschreckend und demotivierend.
    Ich markiere (ohne Rot) am Rand mit kleinen Zahlen und unten schreibe ich dann Anmerkungen dazu: Fragen, Tipps, Vorschläge....

    Meine Tochter hatte eine Lehrerin, die sich extra für Korrekturen immer neue Rotstifte kaufte und dies mit Schadenfreude den Schülern verkündete. Da bin ich mal auf die Barrikaden, ein illustres Gespräch...

    Einen lieben Gruß
    Enya

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Herzlichen Dank für Euer Interesse und die den Blog so sehr bereichernden Kommentare!
Beides ist sowohl der Liese als auch mir eine große Freude! :-)))